Merkblatt Katze Polydaktylie
Tierart: Katze
Defekt an Körperteil: Phalangen an Vorder- und Hintergliedmaßen (Polydaktylie)
QUEN-Merkblatt Nr. 18
Bearbeitungsstand: 23.02.2023
Tierart: Katze
Defekt an Körperteil: Phalangen an Vorder- und Hintergliedmaßen (Polydaktylie)
QUEN-Merkblatt Nr. 18
Bearbeitungsstand vom 23.02.2023
1. Beschreibung des Merkmals
Vorhandensein überzähliger Zehen (Polydaktylie oder Hemingway-Mutation). Alle Gliedmaßen können einzeln oder paarig betroffen sein. Die zusätzlichen Zehen sind meist an der Pfoteninnenseite (präaxial) oder -außenseite (postaxial), seltener mittig angelegt. Es bestehen keine geschlechtsspezifischen Unterschiede, männliche und weibliche Katzen sind gleich häufig betroffen.
2.1 Bild 1
Foto: Maine Coon. Rechte Pfote: Präaxiale Polydaktylie.
Ventus55, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/
w/index.php?curid=30326870
2.1 Bild 2
Foto: Europäisch Kurzhaar. Präaxiale Polydaktylie linke Vorderpfote.
©iStockphoto.com/Ed-Ni-Photo
3. Betroffene Katzenrassen
Maine Coon (Super Scratcher), Pixiebob, Hemingway-Katzen, prinzipiell kann der Defekt bei entsprechender Anpaarung auch in anderen Katzenrassen oder als Mutation auftreten.
4. Vorkommen bei anderen Tierarten
Hunde, Nagetiere, Hühner, Schweine, Pferde, Primaten
5. Mit dem Merkmal verbundene Probleme/Syndrome
50% der Merkmalsträger sollen lt. unbestätigter Aussage (Willer, 1992) vor dem fortpflanzungsfähigen Alter versterben (Semiletalfaktor).
Phänotypisch ist die Polydaktylie charakterisiert durch eine variable Anzahl (ein bis drei Zehen pro Pfote) von zusätzlichen, zum Teil verformten Zehen. Begleitende Befunde reichen von anatomischen Abweichungen von Carpus und Tarsus, zusätzlichen manchmal veränderten Hand- und Fußwurzelknochen, Verlust des Sesambeins bis hin zu Fusionen mit benachbarten knöchernen Strukturen.
Auch wenn in der Regel keine motorischen Auffälligkeiten auftreten, besteht eine erhöhte Verletzungsgefahr durch Traumata oder Einwachsen der ungenutzten Krallen.
6. Symptomatik und Krankheitswert der oben genannten Defekte: Bedeutung/Auswirkungen des Defektes auf das physische/ psychische Wohlbefinden (Belastung) des Einzeltieres u. Einordnung in Belastungskategorie∗
∗Die einzelnen zuchtbedingten Defekte werden je nach Ausprägungsgrad unterschiedlichen Belastungskategorien (BK) zugeordnet. Die Gesamt-Belastungskategorie richtet sich dabei nach dem jeweils schwersten am Einzeltier festgestellten Defekt. Das BK-System als Weiterentwicklung nach dem Vorbild der Schweiz ist noch im Aufbau, daher sind die hier vorgenommenen BK-Werte als vorläufig anzusehen.
Physisch:
Die Polydaktylie ist häufig mit Veränderungen der knöchernen Zehen- oder Mittelfußstrukturen verbunden. Je nach Ausprägung und Aktivitätsprofil des individuellen Tieres können diese Veränderungen Einfluss auf die Beweglichkeit der Pfoten haben. In fortgeschrittenem Alter können durch Fehlstellung und einseitige Abnutzung auch Schmerzen entstehen.
Durch die Verletzungsgefahr kann es zu schmerzhaften Ein- und Abrissen der Zehen mit Infektionsgefahr kommen.
Psychisch:
Nicht bekannt.
(Bei Vorliegen einer erheblich erhöhten Zehenanzahl oder deutlichen Formveränderungen kann es zu Störungen des arteigenen Krallenschärfens kommen).
Belastungskategorie: Noch nicht eingeordnet.
7. Vererbung, Genetik, ggf. bekannte Genteste
Drei Punktmutationen innerhalb des Cis-Regulators (ZRS) verändern das Profil der Erythroblast Transformation Specific (ETS)-Bindung und aktivieren die Expression von Sonic Hedgehog (SHH) an einer ektopischen Stelle in der Gliedmaßenknospe.
Die SHH-Expression während der Entwicklung der Gliedmaßen ist entscheidend für die Festlegung der Identität und Anzahl der Zehen.
Es sind derzeit drei Varianten identifiziert: PDH, PD1 und PD2. Mindestens eine weitere, bislang nicht identifizierte Variante soll außerdem bei der Maine Coon Katze vorkommen.
Genteste: Kommerzielle Genteste stehen zur Verfügung.
8. Diagnose – weitergehende Untersuchungen
Adspektorische Identifizierung durch das auffällige Erscheinungsbild bei vollständig entwickelten Zehengliedern. Röntgendiagnostik bei unvollständig entwickelten zusätzlichen Zehen und zur Befunderhebung von knöchernen Veränderungen.
9. Aus tierschutzfachlicher Sicht notwendige oder mögliche Anordnungen
Entscheidungen über Zucht- oder Ausstellungsverbot sollten im Zusammenhang mit der Belastungskategorie (BK) getroffen werden. Ausschlaggebend für ein Zuchtverbot kann je nach Ausprägung und Befund sowohl der schwerste, d.h. das Tier am meisten beeinträchtigende Befund, und dessen Einordnung in eine der Belastungskategorien (BK) sein, oder auch die Zusammenhangsbeurteilung, wenn viele einzelne zuchtbedingte Defekte vorliegen. Berücksichtigt werden sollte ggf. auch der individuelle Inzuchtkoeffizient eines Tieres.
a) notwendig erscheinende Anordnungen
– je nach Ausprägungsgrad Zuchtverbot oder Zuchterlaubnis mit Einschränkungen
Sachverständigengruppe Tierschutz und Heimtierzucht Gutachten zur Auslegung von § 11b des Tierschutzgesetzes (Verbot von Qualzüchtungen) S.54
Eine unmittelbar auf § 11b gestützte Anordnung nach § 16a Abs. 1 S. 1 zum Zuchtverbot für Merkmalsträger und Anforderung eines Genomprofils.
– Das Ausstellungs -und Bewertungsverbot für Tiere die unter das Verbot von Qualzuchten (§11b TierSchG) fallen, gem § 10 der TierSchHuVO gilt entsprechend der VO nur für Hunde, trifft aber ebenso für Katzen zu: Bei den Tieren besteht aufgrund der sichtbaren Veränderung der Verdacht einer Qualzucht gem. §11b TierSchG, deshalb wird zusätzlich die Vorstellung des Tieres zur Ausstellung und Bewertung aller Art untersagt.
b) mögliche Anordnungen
Unfruchtbarmachung, § 11 b Abs. 2 TierSchG
ggf. Überweisung zu weiterer fachtierärztlicher klinischer Untersuchung.
Bitte beachten:
Maßnahmen der zuständigen Behörde müssen erkennbar geeignet sein, auch in die Zukunft wirkend Schaden von dem betroffenen Tier und/oder dessen Nachzucht abzuwenden. Es handelt sich im Hinblick auf Art und Bearbeitungstiefe von Anordnungen und Zuchtverboten immer um Einzelfallentscheidungen im Ermessen der zuständigen Behörde unter Berücksichtigung der vor Ort vorgefundenen Umstände.
10. Allgemeine tierschutzrechtliche Bewertung
Aus tierärztlicher Sicht sind Katzen mit den oben beschriebenen Defekten/ Syndromen in Deutschland gemäß §11b TierSchG als Qualzucht einzuordnen.
Dabei ist zu beachten, dass das Zuchtverbot nicht nur dann greift, wenn mit Tieren gezüchtet wird, die selbst qualzuchtrelevante Merkmale aufweisen (Merkmalsträger), sondern auch dann, wenn bekannt ist oder bekannt sein muss, dass ein zur Zucht verwendetes Tier Merkmale vererben kann, die bei den Nachkommen zu einer der nachteiligen Veränderungen führen können (Anlageträger; insbesondere Tiere, die bereits geschädigte Nachkommen hervorgebracht haben; vgl. Binder § 5 ÖTSchG zu Z 1).
– Ein wichtiges Indiz für einen erblichen Defekt ist, dass eine Erkrankung oder Verhaltensabweichung bei verwandten Tieren häufiger auftritt als in der Gesamtpopulation. Gegen einen Schaden spricht nicht, dass sich die Rasse oder Population über längere Zeit als lebensfähig erwiesen hat (vgl. Lorz/Metzger § 11b Rn. 12).
– Das Verbot gilt unabhängig von der subjektiven Tatseite, also unabhängig davon, ob der Züchter selbst die Möglichkeit der schädigenden Folgen erkannt hat oder hätte erkennen müssen (Lorz/Metzger § 11b Rn. 4). Wegen dieses objektiven Sorgfaltsmaßstabes kann er sich nicht auf fehlende subjektive Kenntnisse oder Erfahrungen berufen, wenn man die jeweiligen Kenntnisse und Erfahrungen von einem sorgfältigen Züchter der jeweiligen Tierart erwarten kann.
– Vorhersehbar sind erbbedingte Veränderungen bei den Nachkommen auch dann, wenn ungewiss ist, ob sie erst nach einem Generationensprung in späteren Generationen auftreten (vgl. Goetschel in Kluge § 11b Rn. 14).
Begründung:
Beim Auftreten von überzähligen Zehen ist von einer von § 11b Abs. 1 TierSchG umfassten Umgestaltung des Körperorgans Zehen auszugehen.
Das bewusste Züchten von merkmaltragenden Tieren, erfüllt in diesem Fall den Tatbestand der Qualzucht durch:
- Umgestaltung des Körperorgans Zehen (Überzahl und ggfs. Funktionseinschränkung von Zehen)
- die Erwartung von Schäden, Leiden und ggf. Schmerzen
- Einschränkung des arteigenen Ausdrucksverhaltens
Fazit:
Bei der Nachzucht ist mit Schäden und je nach Ausprägungsgrad mit Leiden zu rechnen.
Die Voraussetzungen einer Analogie zum Ausstellungsverbot für Hunde liegen hier vor und daher wäre es aus juristischer Sicht korrekt, für Tiere mit diesem Defekt ein Ausstellungsverbot anzuordnen. Entsprechende Rechtsprechung hierzu gibt es jedoch noch nicht.
Die Aussage von Willer (1992), dass die zugrundeliegende Mutation als Semiletalfaktor zu einem Versterben von 50% der Nachkommen vor dem fortpflanzungsfähigen Alter führt, bedarf weiterer Abklärung.
Ausführliche rechtliche Bewertungen und/oder Gutachten können, soweit schon vorhanden, auf Anfrage Veterinärämtern zum dienstlichen Gebrauch zur Verfügung gestellt werden.
11. Relevante Rechtsprechung
Bisher nicht bekannt.
12. Anordnungsbeispiel vorhanden?
Noch nicht.
13. Literaturverzeichnis/ Referenzen/ Links
An dieser Stelle wird nur eine Auswahl an Quellen zu den oben beschriebenen Defekten und ggf. allgemeine Literatur zu zuchtbedingten Defekten bei Katzen angegeben. Umfangreichere Literaturlisten zum wissenschaftlichen Hintergrund werden auf Anfrage von Veterinärämtern ausschließlich an diese versendet.
Hinweis: Die Beschreibung von mit dem Merkmal verbundenen Gesundheitsproblemen, für die bisher keine ausreichenden wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen, erfolgen vor dem Hintergrund entsprechender Erfahrungen der Experten und Expertinnen aus der tierärztlichen Praxis, und/oder universitären Einrichtungen, sowie öffentlich frei einsehbaren Datenbanken oder Veröffentlichungen von Tier-Versicherungen und entstammen daher unterschiedlichen Evidenzklassen.
Da Zucht und Ausstellungswesen heutzutage international sind, beziehen sich die Angaben in der Regel nicht nur auf Prävalenzen von Defekten oder Merkmalen in einzelnen Verbänden, Vereinen oder Ländern.
Quellen:
Binder R. (2019): Das österreichische Tierschutzrecht: Tierschutzgesetz und Tierversuchsgesetz 2012 mit ausführlicher Kommentierung. 4. Auflage. Wien: Edition Juridica in der MANZ’schen Verlags- und Universitätsbuchhandlung GmbH (Juridica Praxiskommentar).
Gough, A. et al. (2018): Breed Predispositions to Disease in Dogs and Cats. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/book/10.1002/9781119225584
Hamelin, A.; Begon, D.; Conchou, F.; Fusellier, M.; Abitbol, M.(2017) Clinical characterisation of polydactyly in Maine Coon cats. In: J Feline Med Surg; 19(4):382–93 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26862149/
Kluge, H.-G. (2022): Hrsg. Tierschutzgesetz: Kommentar. 1. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer; (Rechtswissenschaften und Verwaltung Kommentare).
Lorz, A.;, Metzger, E. (2019): Tierschutzgesetz: Mit Allgemeiner Verwaltungsvorschrift, Art. 20a GG sowie zugehörigen Gesetzen, Rechtsverordnungen und Rechtsakten der Europäischen Union : Kommentar. 7., neubearbeitete Auflage. München: C.H. Beck
Sachverständigengruppe Tierschutz und Heimtierzucht (1999): Gutachten zur Auslegung von § 11b des Tierschutzgesetzes (Verbot von Qualzüchtungen). https://www.bmel.de/DE/themen/tiere/tierschutz/gutachten-paragraf11b.html
Schöll, K. (2021): Qualzuchtmerkmale bei der Katze und deren Bewertung unter tierschutzrechtlichen Aspekten. Dissertation. http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2021/15863/pdf/SchoellKarina_2020_12_02.pdf
Willer, S. (1992): Erbliche und dispositionelle Krankheiten. In: Schmidt V, Horzinek MC, Hrsg. Krankheiten der Katze. 1. Aufl. Jena, Stuttgart: Fischer; S. 74–94