Merkblatt Ziervogel übermäßige periokuläre Befiederung
Tierart: Ziervogel
Merkmal: Übermäßige periokuläre Befiederung
QUEN-Merkblatt Nr. 13
Bearbeitungsstand: 23.02.2023
Tierart: Ziervogel
Merkmal: Übermäßige periokuläre Befiederung
QUEN-Merkblatt Nr. 13
Bearbeitungsstand: 23.02.2023
1. Beschreibung des sichtbaren Merkmals
Die übermäßige periokuläre Befiederung, welche in Form von Federwülsten oder Federhauben bei verschiedenen Kanarienarten auftritt, zeichnet sich durch eine Kopf-Befiederung aus, welche die Augenhornhaut berühren, reizen und somit zu einem eingeschränkten Gesichtsfeld führen kann.
Der ausgeprägte kraniale Federwulst, welcher bei den Norwich-Kanarien als rassetypisch eingestuft wird, überragt schirmartig beide Augen. Die Borstenfedern (Setae palpebrarum) zeigen bei dieser Art in der Mehrheit am Oberlid und zum Teil auch am Unterlid eine deutliche Einwärtsdrehung. Durch diese Einwärtsdrehung der Federn berühren sie die Kornea und Konjunktiva, weshalb sie tränenfeucht sind. Dieser Kontakt ist ursächlich für Reizerscheinungen am Auge und damit verbundene Visusbeeinträchtigungen. Desweiteren entstehen durch diese rassetypische Befiederung irritierende Einflüsse auf das Auge und dessen Nebenorgane.
Die auf Wirbelbildungen im Kopfgefieder zurückgehenden Federhauben kommen neben den Kanarienvögeln auch bei Wellensittichen und Zebrafinken vor. Die Haubenfedern fallen kreisrund, aus einem sich in der Kopfmitte befindlichen Mittelpunkt, gleichmäßig zu allen Kopfseiten herab. Besagte Federhauben behindern das Sehvermögen der Vögel, da sie zum Teil stark in das Gesichts- und Sehfeld hineinragen.
2.1 Bild 1
Foto: Norwich-Kanarienvogel mit Federwülsten.
Mit frdl. Genehmigung von Dr. Wille
2.1 Bild 2
Foto: Gloster Fancy Corona Melanin
NEWSchr, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=44593324
Weitere Fotos finden Sie hier (Bild anklicken):
3. Betroffene Ziervogelrassen und -arten
Die ausgeprägten Federwülste kommen bei den Norwich-Kanarien und dem Gloster Corona-Consort Kanarienvogel vor. Aber auch Crestbred-Kanarien und der Lancashire weisen rassetypische Augenwülste auf.
Federhauben kommen sowohl bei Crested-Crestbred-Kanarien, dem Lancashire und Gloster Corona-Consort Kanarienvögeln, als auch bei Schauwellensittichen, Japanischen Mövchen/Hauben-Mövchen und Zebrafinken/Haubenzebrafinken vor.
4. Vorkommen bei anderen Tierarten
Federhauben treten auch bei verschiedenen Haushühnern (Paduaner, Zwerg-Paduaner, Holländer Weißhauben, Zwergholländer Weißhauben, Sultanshühner), Haubenenten und Haustauben (Trommeltauben, Strukturtauben) auf.
5. Mit dem Merkmal möglicherweise verbundene Probleme/Syndrome
Bei der überwiegenden Mehrzahl der Vögel ist der Gesichtssinn von herausragender Bedeutung, da dem Sehvermögen/der optischen Orientierung eine entscheidende Rolle zukommt. Das Gesichtsfeld der meisten Vogelarten setzt sich aus zwei monokularen Anteilen zusammen und kann bis zu 300° erreichen. Durch züchterisch geförderte Federanomalien (Federhauben, Federwülste) und Wachstumshypertrophien des Integuments (Augenwülste) können Visusbeeinträchtigungen und irritierende Einflüsse auf das Auge und dessen Nebenorgane entstehen.
Die Federhauben ragen zum Teil so weit in das Gesichtsfeld hinein, dass das Sehen behindert wird. Die Borstenfedern (Setae palpebrarum) der Norwich-Kanarien führen durch ihren häufigen Kontakt mit Kornea und Konjunktiven zu regelmäßigen Reizerscheinungen. Dieser Kontakt beruht auf der deutlichen Einrollung der Borstenfedern am Oberlid und zum Teil auch am Unterlid.
Positurkanarienvögel der Rasse Norwich sind häufig nicht in der Lage Objekte zu erfassen, die sich oberhalb des Kopfes befinden. Ein Teil der Norwich-Kanarien sind infolge der kranialen Federwülste, welche beide Augen schirmartig überragen, „beidseitig sozusagen blind“. Darüber hinaus können aufgrund der eingerollten Borstenfedern chronische Hornhauterosionen sowie Ödeme und Rötungen (Blepharitiden) an den Augen auftreten.
6. Symptomatik und Krankheitswert der oben genannten Defekte: Bedeutung/Auswirkungen des Defektes auf das physische/ psychische Wohlbefinden (Belastung) des Einzeltieres u. Einordnung in Belastungskategorie∗
∗Die einzelnen zuchtbedingten Defekte werden je nach Ausprägungsgrad unterschiedlichen Belastungskategorien (BK) zugeordnet. Die Gesamt-Belastungskategorie richtet sich dabei nach dem jeweils schwersten am Einzeltier festgestellten Defekt. Das BK-System als Weiterentwicklung nach dem Vorbild der Schweiz ist noch im Aufbau, daher sind die hier vorgenommenen BK-Werte als vorläufig anzusehen.
Physisch:
Durch die eingerollten Borstenfedern und der damit einhergehenden ständigen Reizung von Kornea und Konjunktiven kann es zu Ödemen und Rötungen (Blepharitiden) der Augen kommen. Dieser Zustand führt zu einer chronischen Fremdkörperreizung, welcher aufgrund der Anzahl der sensiblen Nervenfasern der hoch empfindlichen Kornea als schmerzhaft zu deuten ist und mit der Trichiasis beim Säugetier verglichen werden kann. In seltenen Fällen kann dieser Dauerreiz zu einer tiefergreifenden Erosion der Kornea führen.
Das durch Federhauben, Federwülste und Augenwülste eingeschränkte Gesichtsfeld der Tiere führt nachweislich zu Visusbeeinträchtigungen.
Psychisch:
In schweren Fällen können tiefe oder perforierende Erosionen entstehen, welche als schmerzhaft zu bewerten sind oder den Verlust des Sehvermögens zur Folge haben. Dies geht folglich mit massiven Einschränkungen der Lebensqualität und des Wohlbefindens einher.
Aufgrund der herausragenden Bedeutung des Gesichtssinnes für Vögel können Störungen der optischen Wahrnehmungsfähigkeit gravierende Folgen haben.
Belastungskategorie: Noch nicht eingeordnet.
7. Vererbung, Genetik, ggf. bekannte Genteste
Der Erbgang für die übermäßige periokuläre Befiederung der Norwich-Kanarien ist noch nicht eindeutig geklärt.
Allgemein wird das Merkmal autosomal unvollständig dominant mit variabler Expressivität vererbt. Dennoch müssen die genetischen Faktoren, welche zur Bildung der Federhauben führen, zwischen den einzelnen Ziervogelrassen unterschieden werden.
Bei Schauwellensittichen handelt es sich um einen bis zu 48%igen Subvitalfaktor, ein embryonaler Hydrocephalus mit dem Absterben am 12. Bruttag kann dessen Folge sein. Überlebende weisen Gleichgewichts- und Koordinationsstörungen, Muskeltremor und Verhaltensdefekte als genetisch gekoppelte Problematiken auf. Die Homozygote Vererbung bei Weibchen führt zu geringeren Gelege- und Eigrößen.
Bei den Haubenkanarienvögeln führt die homozygote Vererbung des „Hauben“-Gens zu einem fetalen Fruchttod beziehungsweise einer verminderten Schlupfrate. Ähnlich verhält sich dieses Gen bei den Japanischen Mövchen/Hauben Mövchen und den Hauben Zebrafinken. Hier stellt die homozygote Vererbung einen Letalfaktor dar, während die heterozygote Vererbung ebenfalls mit einer signifikant höheren Nestlingssterblichkeit einhergeht.
8. Diagnose – weitergehende Untersuchungen
Um die Sehfähigkeit beurteilen zu können, ist es möglich mit einem Wattebausch oder einem Wattestäbchen zu arbeiten. Bei besagtem Wattebauschtest wird ein Wattebausch vor und über dem Käfig fallen gelassen, um eine Verfolgungsbewegung mit dem Kopf beobachten zu können. Bei dem Wattestäbchentest wird der Stab von oben, unten oder seitlich an den Kopf des Vogels herangeführt, um Fluchtbewegungen vor Berührung des Kopfes festzustellen. Die Sehfähigkeit kann mittels dieser Tests jedoch nicht getrennt nach linkem und rechtem Auge beurteilt werden.
Des Weiteren kann der Betrachter den Vogel von vorne über die Schnabelspitze anschauen, um dessen Augenfreiheit festzustellen oder in Grade zu unterteilen.
Steinmetz et al. (2002) schlagen z.B. folgende Grade für Augenfreiheit vor:
- Grad 0: Augen vollständig sichtbar
- Grad 1: einzelne Federn vor den Augen
- Grad 2: ausgeprägtere Bedeckung mit Federn, Augen aber noch sichtbar
- Grad 3: Augen nicht sichtbar
Mithilfe einer Handspaltlampe können die Stellungen der Borstenfedern, die Lider, die Konjunktiven und Cornea genauer untersucht werden. Bei Verdacht einer Erosion kann die Cornea zusätzlich mit Fluoreszin angefärbt und unter violettem Licht betrachtet werden.
9. Aus tierschutzfachlicher Sicht notwendige oder mögliche Anordnungen
Entscheidungen über Zucht- oder Ausstellungsverbot sollten im Zusammenhang mit der Belastungskategorie (BK) getroffen werden. Ausschlaggebend für ein Zuchtverbot kann je nach Ausprägung und Befund sowohl der schwerste, d.h. das Tier am meisten beeinträchtigende Befund, und dessen Einordnung in eine der Belastungskategorien (BK) sein, oder auch die Zusammenhangsbeurteilung, wenn viele einzelne zuchtbedingte Defekte vorliegen. Berücksichtigt werden sollte ggf. auch der individuelle Inzuchtkoeffizient eines Tieres.
a) notwendig erscheinende Anordnungen
– Ausstellungsverbot: Bei dem Tier besteht aufgrund der sichtbaren Veränderung der Verdacht einer Qualzucht gem. §11b TierSchG, deshalb wird die Vorstellung des Tieres zur Bewertung und Ausstellung untersagt (ggf. muss zusätzlich eine Mitverantwortung der Zuchtrichter und /oder Ausstellungsveranstalter für ein rechtswidriges Verhalten = Zucht entgegen §11b TierSchG berücksichtigt werden).
– Zuchtverbot: (unmittelbar auf § 11b gestützte Anordnung nach § 16a Abs. 1 S. 1) Verbot der Verpaarung von Trägern des „Hauben-Gens“ untereinander, da die homozygote Vererbung als Letal- oder Subvitalfaktor maßgebliche Konsequenzen nach sich zieht (s.o.). Die Herauszucht von Qualzuchtmerkmalen verstößt gegen §11b Abs. 1 TierSchG. Denn die Verbotsnorm wird verletzt, wenn auf dem Weg zu zukünftigen Populationen mit annehmbaren Ausprägungsgrad, unvermeidbar Zwischengenerationen herangezüchtet werden, die als Folge der Zucht mit Leiden verbundene erblich bedingte Verhaltensstörungen zeigen.
b) mögliche Anordnungen
Zuchtausschluss von übertypisierten Vertretern. Zukünftiges Zuchtziel muss eine uneingeschränkte Sichtfreiheit besagter Ziervogelarten sein.
Bitte beachten:
Maßnahmen der zuständigen Behörde müssen erkennbar geeignet sein, auch in die Zukunft wirkend Schaden von dem betroffenen Tier und/oder dessen Nachzucht abzuwenden. Es handelt sich im Hinblick auf Art und Bearbeitungstiefe von Anordnungen und Zuchtverboten immer um Einzelfallentscheidungen im Ermessen der zuständigen Behörde unter Berücksichtigung der vor Ort vorgefundenen Umstände.
10. Allgemeine tierschutzrechtliche Bewertung
Aus tierärztlicher Sicht sind Ziervögel mit den oben beschriebenen Defekten/Syndromen in Deutschland gemäß §11b TierSchG als Qualzucht einzuordnen.
Begründung:
Bereits im sogenannten Qualzuchtgutachten wird in Kap. 2.2.3.1.1. ein Zuchtverbot für Wellensittiche und in Kap. 2.2.10.1.1. für Kanarienvögel mit Federhauben empfohlen, wenn diese zu Schmerzen, Leiden oder Schäden führen beziehungsweise zu Sichtbehinderungen führen.
Das Gutachten bezog sich auf eine Gesetzgebung noch vor der Einfügung des Artikel 20a (Tierschutz als Staatsziel) ins Grundgesetz.
Gem. §11b TierSchG in der aktuellen Fassung ist verboten, Wirbeltiere zu züchten […], soweit im Falle der Züchtung züchterische Erkenntnisse […] erwarten lassen, dass als Folge der Zucht […]bei der Nachzucht, den […] Tieren selbst oder deren Nachkommen erblich bedingt Körperteile oder Organe für den artgemäßen Gebrauch fehlen oder untauglich oder umgestaltet sind und hierdurch Schmerzen, Leiden oder Schäden auftreten oder […] bei den Nachkommen mit Leiden verbundene erblich bedingte Verhaltensstörungen auftreten […]
Reizungen und Irritationen der Kornea und Konjunktiven infolge einwärts gerollter Borstenfedern führen zu erheblichen Schmerzen und Leiden und können zu chronischen Beeinträchtigungen wie der Entstehung von Hornhautulzerationen führen. Diese gehen folglich mit hochgradigen Einschränkungen der Lebensqualität und des Wohlbefindens einher. Zudem ist die massive Sichtbehinderung und zum Teil vollständige Blindheit betroffener Vögel als extrem schwerwiegend einzustufen, da der Gesichtssinn bei der überwiegenden Mehrzahl der Vögel von herausragender Bedeutung ist. Damit stellen übermäßige periokuläre Befiederungen eindeutig eine Qualzuchteigenschaft dar.
Züchterische Erkenntnisse lassen nicht nur erwarten, dass bei den Nachkommen mit Schmerzen, Leiden und Schäden verursachenden Einschränkungen gerechnet werden muss, sondern es muss als erwiesen angesehen werden, dass ein mehr oder weniger großer Anteil der Nachkommen mit nicht unerheblichen Einschränkungen des Wohlbefindens wird leben müssen.
Ausführliche rechtliche Bewertungen und/oder Gutachten können, soweit schon vorhanden, auf Anfrage Veterinärämtern zum dienstlichen Gebrauch zur Verfügung gestellt werden.
11. Relevante Rechtsprechung
Noch nicht vorhanden.
Vergleiche nicht einschlägige Rechtssprechung zu Haubenenten:
1. Instanz VG Gießen, Urteil vom 14. April 2003 – 10 G 417/03
https://openjur.de/u/294576.html
2. Instanz VGH Kassel, Beschluss vom 26. Juni 2003 – 11 TG 1262/03. Zurückweisung der Beschwerde gegen VG Gießen vom 14.4.2003
Hessischer VGH, Beschluss vom 26.06.2003 – 11 TG 1262/03 – openJur
3. Instanz BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2009 – 7 C 4.09. Aufhebung Vorinstanzen
12. Anordnungsbeispiel vorhanden?
Nein.
13. Literaturverzeichnis/ Referenzen/ Links
An dieser Stelle wird nur eine Auswahl zu den oben beschriebenen Defekten und ggf. allgemeine Literatur zu zuchtbedingten Defekten bei Ziervögeln angegeben. Umfangreichere Literaturlisten zum wissenschaftlichen Hintergrund werden auf Anfrage von Veterinärämtern ausschließlich an diese versendet.
Hinweis: Die Beschreibung von mit dem Merkmal verbundenen Gesundheitsproblemen, für die bisher keine ausreichenden wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen, erfolgen vor dem Hintergrund entsprechender Erfahrungen der Experten und Expertinnen aus der tierärztlichen Praxis, und/oder universitären Einrichtungen, sowie öffentlich frei einsehbaren Datenbanken oder Veröffentlichungen von Tier-Versicherungen und entstammen daher unterschiedlichen Evidenzklassen.
Da Zucht und Ausstellungswesen heutzutage international sind, beziehen sich die Angaben in der Regel nicht nur auf Prävalenzen von Defekten oder Merkmalen in einzelnen Verbänden, Vereinen oder Ländern.
Quellen:
Cirsovius, Thomas (2021): Sind tierschutzwidrige Maßnahmen iSv § 11b Abs 1 dt TierSchG legal, wenn bezweckt ist, nach mehreren Zuchtgenerationen ungeschädigte, schmerz‐ und leidensfrei lebensfähige Nachkommen zu erzielen? DOI: 10.35011/TIRUP/2021-3.
Sachverständigengruppe Tierschutz und Heimtierzucht (1999): Gutachten zur Auslegung von § 11b des Tierschutzgesetzes (Verbot von Qualzüchtungen).
https://www.bmel.de/DE/themen/tiere/tierschutz/gutachten-paragraf11b.html
Steinmetz, A.; Krautwald-Junghanns, M.-E.; Bartels, T. (2002): Vergleichende Untersuchungen am äußeren Auge und zur Sehfähigkeit von Positurkanarienvögeln der Rasse Norwich und Farbkanarienvögeln. In: Tierärztl Prax 30 (K), S. 461–466.