Historie Defekt- oder Qualzucht

Der Europarat verfasste 1987 das Europäische Übereinkommen zum Schutz von Heimtieren, in dem auch die Qualzucht thematisiert wird.

So wird in Art. 5 jeder Tier-Züchter aufgefordert „[…] die anatomischen, physiologischen und ethologischen Merkmale zu berücksichtigen, die Gesundheit und Wohlbefinden der Nachkommenschaft oder des weiblichen Elternteils gefährden könnten“ (Council of Europe, 1987).

Im Jahr 1995 wurden die Generalklauseln des Übereinkommens in Form einer Resolution konkretisiert. Einerseits wurde die Festlegung von Grenzen für einzelne Zuchtmerkmale, wie Kurzköpfigkeit und Zwergwuchs durch die Zuchtvereine gefordert. Andererseits wurde die Ausschließung oder, wenn nicht anders möglich, die Aufgabe einer Zucht von Tieren mit Semiletalfaktor, rezessivem Gendefekt und haarlosem Phänotyp vereinbart. Selbiges wurde für die züchterische Vermehrung von Manx-Katzen sowie von Katzen, die das W-Gen tragen, beschlossen (Council of Europe, 1995).

In Europa und so auch in Deutschland ist also die Zucht von Tieren mit sog. Qualzuchtmerkmalen seitdem verboten.

Zu dieser Zeit erschien auch das Buch ‘Kleine Kynologie` von Professor Wilhelm Wegner bereits der 3.Auflage und wurde auch noch 1995 wieder aufgelegt. Ein Bestseller unter Tierärzten, Tierfreunden und Hundezüchtern. Heute werden vereinzelte Bücher im Antiquariat für 2-400 Euro angeboten. Prof. Wegner, zu der Zeit Prof. für Tierzucht und Haustiergenetik, beschrieb bereits damals recht eindrücklich Genetik, Rassen und spezielle Dispositionen von Hunderassen und die Folgen der Missachtung menschlicher Verantwortung für die Gesundheit der Hunde. Generationen von Studierenden haben in seinen Vorlesungen Gelegenheit gehabt, aus diesen Erkenntnissen Anregungen für spätere persönliche Handlungsoptionen mitzunehmen.

Seit 1986 – also seit über 35 Jahren – gilt im deutschen Tierschutzgesetz der sogenannte Qualzuchtparagraf § 11b.

Seit dem 02.06.1999 gibt es zur Konkretisierung ein Gutachten zur Auslegung von §11b des Tierschutzgesetzes (Verbot von Qualzüchtungen), das vom Bundesministerium herausgegeben wurde.

Das Gutachten soll insbesondere allen Züchtern von Heimtieren helfen, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und die Vorschriften des Tierschutzgesetzes, welche die Züchtung betreffen, in vollem Umfang zu beachten. Ziel ist das vitale, gesunde, schmerz- und leidensfreie Tier.“ (BMEL 26.10.2005)

Zur Vorbereitung eventueller Vollzugsmaßnahmen durch die Behörden führte die Landestierschutzbeauftragte Frau Dr. Martin bereits im Jahr 2001 ein Seminar für hessische Amtstierärztinnen und Amtstierärzte durch. Auf der Grundlage des o.g. Sachverständigen-Gutachtens zur Auslegung des § 11b TierSchG aus 1999 wurden die vollzugsrelevanten Probleme in den verschiedenen Zuchtbereichen im Detail besprochen. Auch Schulungen und Weiterbildungen für Zuchtrichter wurden durchgeführt. In der Folge des Vollzuges hatten erteilte Verbote Erfolg und Züchter beendeten ihre Zuchten, z. B. von Kippohr- oder weißen Katzen.

Auch wurden zwei in Hessen ansässigen Züchtern die Fortsetzung ihrer Zucht von Landenten mit Federhaube nach § 11b TierSchG untersagt, weil bei dieser Zuchtform nachweislich mit schweren Hirndefekten gerechnet werden muss. Während einer der beiden Züchter das Zuchtverbot akzeptierte, legte der andere Widerspruch ein. Es folgten diverse Gerichtsverfahren bis hin zur höchsten Instanz, dem Bundesverwaltungsgericht. Das Verwaltungsgericht Gießen sowie auch der Verwaltungsgerichtshof in Kassel (VGH) sahen die Voraussetzungen für die Untersagung nach § 11b TierSchG auf der Grundlage eines einschlägigen wissenschaftlichen Forschungsprojekts zur Haubenentenzucht und Aussagen der Gutachtergruppe zur Auslegung des §11b TierSchG als gegeben.

So verwies der VGH in seiner Begründung u.a. darauf, dass spätestens nach der Verankerung des Tierschutzes in § 20a des Grundgesetzes kein Anspruch mehr auf die Fortführung traditioneller Zuchtweisen erhoben werden kann, wenn diese mit dem Tierschutz kollidieren.

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig sah dies allerdings anders und hob die Verfügung in letzter Instanz auf. Als Folge dessen musste man feststellen, dass der § 11b des Tierschutzgesetzes in der damaligen Form für bestimmte Fälle offensichtlich nicht vollziehbar war.

Im Rahmen der Novellierung des Tierschutzgesetzes in 2013 wurde der § 11b geändert.

Das Qualzuchtgutachten aus 1999 wurde bis heute leider nicht aktualisiert und ist dementsprechend nicht mehr in allen Punkten auf dem aktuellen Wissensstand. Es fehlen nicht nur einige Qualzuchtmerkmale, sondern vor allen Dingen der Bezug zur aktuellen Gesetzgebung und daraus folgender notwendiger Konsequenzen.

Viele Zuchtmerkmale sind aber nach wie vor als Qualzucht-Merkmale aktuell, wie z. B. die Merkmale Brachycephalie (Kurzköpfigkeit bzw. Rundköpfigkeit) bei Hunden und Katzen, Haubenbildung bei Enten, Kippohrigkeit oder Haarlosigkeit bei Katzen und Hunden, fehlende Ruten oder Schwänze, Kippohren bei Kaninchen oder besondere Gestalt bei Kanarienvögeln, wobei hierbei nur die äußerlich erkennbaren Symptome einer Defektzucht genannt sind.

Heute kommt es insbesondere durch „Modetrends“ im Bereich der Heimtiere wieder vermehrt zu Züchtungen, die – man kann es kaum anders ausdrücken – ohne Sinn und Verstand erfolgen ( Beispiel so genannte  ‘Tea Cup‘ Hunde oder Katzen )

Der Neustart

Aktivitäten der Bundestierärztekammer (BTK)

Die Bemühungen der Tierärzteschaft durch Aufklärung und Gespräche mit Zuchtverbänden haben nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Auf dem Deutschen Tierärztetag 2015 in Bamberg wurde deshalb das Thema Qualzucht bei Klein- und Heimtieren im Arbeitskreis 1 behandelt. Es wurden Forderungen festgelegt, um der zunehmenden Nachfrage nach Qualzuchten zu begegnen. Die Bundestierärztekammer (BTK) hat eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die u.a. gegen Werbung mit Qualzuchten vorgeht, aber auch Hilfestellung für die Bewertung von brachycephalen Hunderassen erarbeitet hat.

Die erste Sitzung der Arbeitsgruppe war am 28. Juli 2016. Auf der Internetseite https://www.bundestieraerztekammer.de/tieraerzte/qualzuchten/ hat die BTK unter der Überschrift ‘Wenn Schönheit weh tut‘ veröffentlicht, was im Hinblick auf Qualzucht bereits getan und initiiert wurde. Die o.g. Arbeitsgruppe hat Informationsmaterial (Flyer Hund, Flyer Katze; Entscheidungshilfe für Amtstierärzte brachycephale Hunde; Entwicklung eines offenen Briefes gegen Werbung mit Qualzuchten) erarbeitet und herausgegeben. Die BTK schreibt regelmäßig Firmen, Zeitschriften und Sender an, die offensichtlich defekttragende Tiere in Werbunganzeigen und Selbstdarstellung verwenden. In fast abgeschlossener Bearbeitung ist ein neuer Erhebungsbogen zur Untersuchung von Hund und Katze als Entscheidungshilfe für Amtstierärzte.

Aktivitäten der Tierärztekammer Berlin

Zwei wesentliche Punkte der umfangreichen Liste von Forderungen an die Tierärzteschaft, die auf dem Tierärztetag 2015 gemeinsam erarbeitet wurden, sind Fortbildung und Öffentlichkeitsarbeit. Diesem Anspruch ist die Berliner Tierärztekammer mit mehreren Veranstaltungen nachgekommen. Mit der Aufnahme von Texten aus dem Deutschen Tierärzteblatt 2017 von Bodo Busch „Beurteilung von brachycephalen Hunderassen hinsichtlich Qualzuchtmerkmale am Beispiel des Mops“ und Gerhard U. Oechtering: Wenn Menschen Tiere verformen: Ein Ruf nach mehr Qualitätskontrolle in der Hundezucht“ hat sie öffentlich zugänglich gemacht unter welchen Qualen brachycephale Hunderassen leiden und wie hier Abhilfe geschaffen werden kann.

Akzente gesetzt hat die Berliner Tierärztekammer aber auch durch das Bemühen, das Thema Qualzucht von Anfang an aus der Sicht verschiedener Akteure und betroffener Tierarten zu beleuchten. Auf verschiedenen Fortbildungsveranstaltungen trugen nicht nur Tierärzte aus den verschiedensten Fachbereichen, Genetiker, Tierzüchter und Landwirte ihre jeweiligen Standpunkte und Erkenntnisse vor.  Auch Juristen und Ethiker haben dargestellt, welche Grenzen dem Handlungsspielraum im Tun oder Unterlassen nicht nur den Tierzüchtern sondern auch den Tierärzten gesetzt sind.

Durch solche Aufklärungskampagnen und Fortbildungsveranstaltungen versuchen Tierärzte und universitäre Einrichtungen eine breite Öffentlichkeit aufzuklären und Studierende und Kollegen für das Problem und entsprechende Handlungsnotwendigkeiten zu sensibilisieren. Dabei werden nicht nur Hunde und Katzen, sondern auch andere Tierarten wie Reptilien, Amphibien, kleine Heimtiere und Vögel, Milchkühe und Geflügel in den Fokus gerückt.

Qualzucht bei Nutztieren

Professor Holger Martens erläuterte auf einer der Fortbildungsveranstaltungen der Berliner Tierärztekammer eindrücklich die Grenzen der Kompensationsfähigkeit von Milchkühen und erklärt mit welchen gravierenden metabolischen Herausforderungen eine sehr hohe Milchleistung einhergeht, die zu einer Reihe von Erkrankungen führen kann. Dem Thema Fütterung und Haltungsmanagement kommt hierbei eine zentrale Rolle zu. Welche Rolle die Zucht in diesem Zusammenhang spielt, bleibt allerdings häufig unbeachtet. Wie groß ist der Einfluss der Zucht auf die Gesundheit der Milchkuh und inwieweit kann oder muss die Zucht  zu einer Verbesserung des Tierwohls beitragen?

Eine rechtliche Bewertung der Hochleistungszucht von Milchkühen hinsichtlich der Einstufung als Qualzucht nach § 11b Tierschutzgesetz (TierSchG), aber auch unter dem Gesichtspunkt des § 3 S. 1 Nr. 1 TierSchG (das Verbot, einem Tier außer in Notfällen Leistungen abzuverlangen, denen es wegen seines Zustandes offensichtlich nicht gewachsen ist oder die offensichtlich seine Kräfte übersteigen), erfordert eigentlich eine adäquate Reaktion der Exekutive, die aber diesbezüglich wenig bis gar keine Unterstützung der Legislative erfährt.

Auch nach EU-Recht (Anhang Nr. 21 RL 98/58/EG) dürfen Tiere nur zu landwirtschaftlichen Nutzzwecken gehalten werden, „wenn aufgrund ihres Genotyps oder Phänotyps berechtigtermaßen davon ausgegangen werden kann, dass die Haltung ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen nicht beeinträchtigt.“ Auch §17 Nr. 2b TierSchG (erhebliche Schmerzen und Leiden) wäre in Einzelfällen zu berücksichtigen.

Von den Teilnehmern der Veranstaltung wurde die Forderung an das BMEL wiederholt, wie bereits von der BTK 2003 und 2013 gefordert, von der Ermächtigungsgrundlage des § 11b Abs. 4 TierSchG Gebrauch zu machen und über eine Rechtsverordnung erblich bedingte Krankheitsrisiken in der Nutztierzucht näher zu bestimmen und die Zucht mit bestimmten Nutztierrassen bzw. Linien zu verbieten oder zu beschränken, wenn dieses Züchten zu Verstößen gegen § 11b Abs. 1 TierSchG führen kann. Dringend erforderlich ist eine Konkretisierung des Begriffs Qualzucht bei Nutztieren im Sinne des Tierschutzgesetzes.

Gegenüber den Verbrauchern muss die Problematik der Zusammenhänge zwischen Zucht und Erkrankungen ähnlich offensiv diskutiert werden wie die Haltungsbedingungen. Die Zuchtproblematik ist vielen Verbrauchern deutlich weniger bewusst als die Frage artgerechter Haltung. Der Ausschuss für Tierschutz und Tierschutzethik der Tierärztekammer Berlin beschloss, sich der Umsetzung der Forderungen und Vorschläge durch weitere Verbraucheraufklärung anzunehmen.

Anlässlich der Veranstaltung:“ § 11b TierSchG Geflügelzucht – Quo Vadis?“ nahm Prof. Dr. Jörg Luy (Veterinärmediziner und Philosoph) Stellung zu den ethischen und rechtlichen Aspekten der Nutztierzucht. Er stellt klar, dass die Zufügung bzw. Inkaufnahme von Schmerzen, Leiden oder Schäden im Zusammenhang mit Tieren primär ebenso unmoralisch ist, wie Zuchtziele, die Schmerzen, Leiden oder Schäden in Kauf nehmen, grundsätzlich unmoralisch sind.

Sein Fazit: § 11b TierSchG, der vordergründig wie ein schwer zu fassendes juristisches Problem erscheint, stellt eigentlich eine bislang unerledigte, standespolitische Aufgabe der Tierärzte dar, da allein Tierärzte dazu in der Lage sind, auf medizinischer und ethologischer Grundlage festzulegen, welche Geno- oder Phänotypen unter § 11b fallen.

Für das inzwischen 30 Jahre alte Problem gibt es seiner Aussage nach nur eine (schmerzhafte) Therapie: Der tierärztliche Berufsstand müsste von sich aus ein wissenschaftliches Gutachten über die Rassen, Linien, Geno- und Phänotypen der Nutztierzucht, die unter § 11b zu zählen sind, erstellen. – Alles andere fällt unter den Begriff der leidensverlängernden Symptombehandlung.

Prof. Dr. agr. habil. Bernhard Hörning (Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde) berichtete über tierschutzrelevante Zusammenhänge zwischen Wachstumsgeschwindigkeit, Gewicht und Bewegungsunlust / Ruheverhalten bei Mastgeflügel und dem Zusammenhang von Änderung der Zuchtziele mit dem Auftreten von Brust- Muskelerkrankungen.

Die Vorträge sämtlicher Referenten der oben genannten Veranstaltungen sind auf der Website der Berliner Tierärztekammer nachzulesen:

https://www.tieraerztekammer-berlin.de/qualzucht/weitere-informationen.html

Es bleibt festzustellen, dass tierartübergreifend die durch Zucht zugefügten Schäden, die zu Leiden und Schmerzen der Tiere führen, ausführlich untersucht und die daraus gewonnenen Erkenntnisse weithin bekannt sind. Eine pragmatische Umsetzung dieser Erkenntnisse wie sie z. B. auch in der mit mehreren Preisen ausgezeichneten Dissertation von Daphne Demmler: „Leistungsabhängige Gesundheitsstörungen bei Nutztieren für die Fleischerzeugung (Schweine, Rinder, Hühner, Puten) und ihre Relevanz für § 11b Tierschutzgesetz („Qualzucht“)“ ( FU Berlin, 2011) zusammen getragen wurden, findet nicht statt.

Wie gesellschaftlich relevant das Thema ist, zeigt auch die Kampagne gegen Qualzucht und Qualhaltung von Puten von Dr. med. Walter Neussel (Mediziner, Förderverein des Peter-Singer-Preises für Strategien der Tierleidminderung e.V.). Ein Aufruf eine tiergerechte Zukunftsstrategie in der Tierzucht und Tierhaltung zu erarbeiten und die Forderung zur sofortigen Beendigung der Qualzucht und Qualhaltung von Puten unter Berufung auf das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim BMEL „Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung“ vom März 2015.

Aus Sicht aller Landestierschutzbeauftragten ist es inakzeptabel, dass der gesamte Bereich der Tiere in landwirtschaftlicher Produktion bisher von der Bundesregierung von der Qualzuchtdebatte ausgenommen wird – obgleich es inzwischen klare wissenschaftliche Belege für Qualzuchtmerkmale bei vielen dieser Tierarten gibt. Dabei geht es z.B. um den Tieren abverlangte Leistungen wie Milch, Eier oder Fleisch-/Wachstumszuwachs, die das physiologische Kompensationsvermögen des Organismus überfordern, ganz abgesehen davon, dass es nach §3 S.1 Nr.1 TierSchG verboten ist einem Tier Leistungen abzuverlangen, denen es wegen seines Zustandes offensichtlich nicht gewachsen ist oder die offensichtlich seine Kräfte übersteigen.

Deshalb initiierte die LBT, Dr. Madeleine Martin, 2016 einen Antrag des Landes Hessen für die Verbraucherschutzministerkonferenz (VSMK) mit dem Ziel, sowohl das vorhandene Qualzuchtgutachten zu aktualisieren, als auch die landwirtschaftlich genutzten Tiere einzubeziehen. Der Antrag wurde im April 2016 von der Verbraucherschutzministerkonferenz (VSMK) angenommen.

Erfreulicherweise hat sich Anfang des Jahres 2019 auch die Bundestierärztekammer dem Thema „Qualzucht bei Nutztieren“ angenommen. Als Ergebnis dazu soll ein Positionspapier veröffentlicht werden.

Der Vollzug des §11bTierSchG wird sicherlich bei den so genannten landwirtschaftlichen Nutztieren noch sehr viel schwieriger als im Heimtierbereich. Neben umfänglichen Untersuchungen und Schrifttum zu diesem Problem zeigt sich auch in der kürzlich veröffentlichten Studie über Rinderhaltung in Deutschland (www.PraeRi.de) die Erkenntnis, dass die Haltung und Fütterung sehr vieler Milchkühe nicht adäquat zu der abgeforderten Leistung erfolgt. „Es liegt mit dem hier vorgelegten Bericht eine deutschlandweit und sogar weltweit einzigartige, umfassende Beschreibung der Gesundheit und Leistung in Milchkuhbetrieben vor. […] “

Aus Aussagen wie:

  • Daraus ergab sich ein Ketoserisiko für ca. 25 bis 30 % der Tiere eines Betriebes.
  • Für das Risiko einer Pansenazidose ergaben sich Häufigkeiten von 38 bis 45 % der Tiere eines Betriebes.
  • Mit Bezug auf die Rationsgestaltung ergab die Auswertung der MLP-Daten, dass bei Frühlaktierenden die zurzeit gängigen Fütterungsstrategien mit einem erhöhten Risiko für Ketose und Pansenazidose einhergehen, h. es gelingt offensichtlich nicht, die Gratwanderung zwischen Leistungs- und Wiederkäuergerechtigkeit zu bewältigen. (Hervorhebung d. Verfasser)

ergibt sich sehr verborgen, nicht aber deutlich die Forderung nach einem Umdenken in der Zucht und es wird der Bezug zu der Frage hergestellt, ob es den Tieren gegenüber fair ist, ihnen Leistungen anzuzüchten, die nicht nur ein Handling von absoluten Spezialisten erfordert, sondern eigentlich die Kompensationsfähigkeit ihres Organismus überfordern, sodass sehr häufig Stoffwechselstörungen auftreten.

Eine Anfang des Jahres 2021 abgeschlossene Dissertation aus dem Institut für Tierschutz und Tierverhalten und Versuchstierkunde der Freien Universität Berlin zu Milchkühen „Tierschutzrelevante Zuchtprobleme beim Milchrind“ von Alina Bauer erweitert den Erkenntnishorizont und nährt die Hoffnung auf daraus folgende Konsequenzen.

Die ethische Eigenverantwortung der Züchter und Zuchtorganisationen scheint ebenso wenig zu genügen, wie der tatsächliche Vollzug des §11b TierSchG oder gar die Verlagerung der Verantwortlichkeit auf Verbraucherinnen oder Verbraucher.

Wo also liegt die Kompetenz und bei wem die Verantwortung?

Es gibt bislang nur wenige Verfahren bzw. Gerichtsurteile, die sich auf die im Jahr 2013 neue Formulierung des sog. Qualzuchtparagrafen im Tierschutzgesetz stützen.

Ein erstes Urteil wurde am 23.09.2015 gesprochen. Es ging um die Haltung und v.a. Züchtung von Canadian-Sphynx-Katzen (sogenannte Nacktkatzen). Diese Tiere haben aufgrund einer Genveränderung weder Fell noch funktionsfähige Vibrissen.

Bereits im BMEL-Gutachten von 1999 ist festgehalten: „Tasthaare sind ein wesentliches Sinnesorgan für die Katze. Ihnen kommt vor allem im Dunkeln zur Orientierung Bedeutung bei, aber auch beim Fangen und Abtasten der Beute, beim Untersuchen von Gegenständen und bei der Aufnahme sozialer Kontakte (BRUNNER, 1994; LEYHAUSEN, 1996). Wenn sie fehlen bzw. so umgestaltet sind, dass ihre Funktion verlorengeht, ist das als Körperschaden zu bewerten, der die Katze in ihrer Fähigkeit zu arttypischem Verhalten so einschränkt, dass dies zu andauernden Leiden führt…)“

Da die Haarlosigkeit vererbt wird, kann zur Vermeidung der Zucht die zuständige Behörde u.a. das Unfruchtbarmachen von Wirbeltieren anordnen. Das Berliner Veterinäramt Spandau untersagte einer Züchterin auf dieser Grundlage die Zucht und forderte sie auf, den von ihr gehaltenen Kater kastrieren zu lassen. Hiergegen opponierte die Züchterin – ohne Erfolg. Auf Grundlage der Begründungen dieses Urteils erfolgten dann weitere erfolgreiche Untersagungen von Zuchten mit haarlosen Katzen.

Aktuelle Entwicklungen

Im November 2019 hatte sich die damalige Landestierschutzbeauftragte von Berlin, Diana Plange, zu der Zeit Sprecherin aller Tierschutzbeauftragten der Länder, in Umsetzung des o.g. Beschlusses der Tierärztekammer Berlin, an die Bundesministerin und das zugeordnete Referat im BMEL gewendet und anlässlich des im vorliegenden Entwurf zur Änderung der Tierschutz-Hundeverordnung in §10 vorgesehenen Ausstellungsverbots für Qualzuchten, angeboten, durch einen von Experten erstellten Katalog für Qualzuchtmerkmale, qualifizierte Hilfestellung zur Konkretisierung des Ausstellungsverbotes zu leisten:

[…]“ Wir erlauben uns kurz vorab zu erwähnen, dass die anatomische Umgestaltung von Hunden zur Etablierung und/oder Aufrechterhaltung eines Rassetyps bewusste Zuchtentscheidungen des Menschen darstellen. […]

Daher möchte Ihnen die LTB von Berlin heute die wertvolle Zuarbeit einer Expertengruppe zum Thema Qualzucht, bestehend aus den Landestierschutzbeauftragten, der Berliner Tierärztekammer, der Deutschen Juristischen Gesellschaft für Tierschutzrecht e.V.(DJGT), der Tierschutzombudsstelle-Wien, mehreren thematisch versierten Tierärzten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, sowie wissenschaftlichen Experten wie Prof. Dr. Oechtering, Direktor der Klinik für Kleintiere der Veterinärmedizinischen Fakultät der Universität Leipzig anbieten. Diese Arbeitsgruppe würde zur Erleichterung des Vollzugs eines Ausstellungsverbots einen entsprechenden Merkmalskatalog für Hunde erarbeiten, der als grundlegende Entscheidungshilfe und Nachschlagewerk von zuständigen Veterinären praktisch eingesetzt werden könnte.

Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie unser Angebot zeitnah überdenken würden und ein entsprechender Dialog zustande käme. Für Rückfragen stehen wir gerne zur Verfügung!“

Es entstand weder ein Dialog, noch kam es zu Rückfragen, aber die zuvor lose organisierte Gruppe von interessierten und engagierten Tierärzten, Biologen, Kynologen und Juristen haben sich im Laufe des Jahres 2020 formiert und zunächst in einer länderübergreifenden, auch noch fortbestehenden Arbeitsgruppe zusammengefunden.

Richtungsweisende wissenschaftliche Arbeiten

Gerade zum richtigen Zeitpunkt erschien Anfang des Jahres 2021 aus dem Fachbereich Tierschutz der Justus- Liebig Universität Gießen die Dissertation der Tierärztin Dr. Karina Schöll: “QUALZUCHTMERKMALE BEI DER KATZE UND DEREN BEWERTUNG UNTER TIERSCHUTZRECHTLICHEN ASPEKTEN“ die freundlicherweise auch online zur Verfügung gestellt wird http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2021/15863/index.html und sicherlich den Vollzug des §11b im Bereich der Katzenzucht maßgeblich unterstützen wird.

Blick zu den Nachbarn

Die Qualzuchtkampagne der Tierärztekammer Berlin wurde auch von unseren Nachbarn in Österreich aufgegriffen: https://www.tieranwalt.at/de/Projekte/Qualzucht.htm und die Tierschutzombudsstelle- Wien wirkt neben eigenen Aktivitäten nicht nur als Multiplikator, sondern auch als Kooperationspartner im QUEN- Projekt mit.

Der Schweizer Tierschutz organisierte eine Tagung zum Thema Extremzuchten bei Heimtieren (18.10.2019), bei der es neben dem Austausch von Vollzugserfahrungen, Perspektiven zur Bewältigung des Problems aus Sicht eines Genetikers, Vorstellung von Extremzuchten bei Hunden und Katzen, auch um Kaninchen, Fische und Reptilien ging.

Die Konsequenz

Tierärztinnen und Tierärzte in Deutschland verpflichten sich mit ihrem Ethik-Kodex zum ethischen Handeln. „Wir lehnen alle Maßnahmen ab, durch die Tieren Leistungen erbringen sollen, die ihre physische oder psychische Anpassungsfähigkeit überfordern oder die negative Konsequenzen für ihre Gesundheit und/oder ihr Wohlbefinden haben. Wir verurteilen jede Form von Tierzucht, die zu Schmerzen, Leiden und Qualen führt oder beiträgt, und setzen uns für die präventive Aufklärung sowie für das Erkennen und Vermeiden solcher Entwicklungen ein.“

Auch auf Grund dieser Selbstverpflichtung wurde Anfang des Jahres 2021 in Kooperation mit der Tierärztekammer Berlin, der Deutschen Juristischen Gesellschaft, der Tierschutzombudsstelle-Wien und dem Schweizer Tierschutz das Projekt Qualzucht-Evidenz- Netzwerk (QUEN) gegründet, dem inzwischen auch der Deutsche Tierschutzbund und alle Tierschutzbeauftragten der Bundesländer als Kooperationspartner beigetreten sind.

Das Projekt hat darüber hinaus inzwischen viele Förderer und Unterstützer gefunden und arbeitet mit tierärztlichen Kolleginnen und Kollegen, sowie Organisationen aus verschiedenen europäischen Ländern wie Österreich, der Schweiz, den Niederlanden, Norwegen, Belgien und Frankreich zusammen.

Aus der kollaborativen Zusammenarbeit mit der Tierschutz-Professur der Justus-Liebig-Universität Gießen entwickelte sich im Laufe des Jahres 2021 eine immer engere Zusammenarbeit und eine Präzisierung der Ziele des Projektes:

Projekt QUEN

Das Qualzucht-Evidenz Netzwerk (QUEN) ist eine zusammen mit Mitgliedern der Berliner Tierärztekammer entwickelte, nicht kommerzielle Initiative, die in Kooperation  mit der Tierärztekammer Berlin, der Deutschen Juristischen Gesellschaft für Tierschutzrecht (DJGT), dem Deutschen Tierschutzbund mit der Akademie für Tierschutz, der Tierschutz-Ombudsstelle Wien (TOW), den Tierschutzbeauftragten der Bundesländer in Deutschland und dem Schweizer Tierschutz (STS) entstanden ist. Das Projekt erfuhr von Anfang an große Unterstützung von Expertinnen und Experten aus dem gesamten Bundesgebiet, Österreich, der Schweiz, Norwegen, Frankreich, den Niederlanden und weiteren europäischen Nachbarländern, sowie den tierärztlichen Fachverbänden und Tierschutzorganisationen.

Nach einem Versuch das Netzwerk der Mitarbeitenden in einem Verein zusammen zufassen, hat sich dieser Versuch als nicht tragfähig erwiesen und es wurde im März des Jahres 2023 die QUALZUCHT-EVIDENZ Netzwerk (QUEN) gGmbH gegründet, die inzwischen mehrere Projekte betreibt und dabei von vielen deutschen und internationalen Experten unterschiedlichster Fachbereiche unterstützt wird.

Das QUEN Projekt ist modular aufgebaut, wobei die einzelnen Module auf den Ergebnissen der anderen Teile aufbauen und alle Teile bedarfsabhängig erweitert und aktualisiert werden:

QUEN Informationsdatenbank: Erstellung von Merkblättern zu zuchtbedingten Defekten und defektbelasteten Tierarten und Rassen.

QUEDbase: Aufbau einer Datenbank in welcher (zunächst) zu  Hunderassen bekannt gewordene zuchtbedingte Defekte erfasst, zugeordnet und deren Belastung für das ggf. betroffene Einzeltier am Modell der Schweizer Belastungskategorien festgelegt wird.

QUENadvice: Beratung und Unterstützung von Veterinärämtern in Einzelfällen.

DiaQUEN: Applikation zur webbasierten Beurteilung der Zucht- und Ausstellungseignung von Einzeltieren.

Primär will die Website QUEN Behörden, Gerichten und politischen Entscheidungsträgern als Informationsquelle zur Verfügung stehen, um den Vollzug des Tierschutzgesetzes nachhaltig zu unterstützen. Gleichzeitig soll aber auch die Öffentlichkeit in einem transparenten Prozess umfassend informiert werden, indem die sonst auf vielen Quellen verteilten wissenschaftlichen Erkenntnisse und teilweise nicht immer frei zugänglichen Informationen zu Aspekten der Qualzucht komprimiert auf der QUEN Webseite zur Verfügung gestellt werden. Leitgedanke des Gesamtkonzeptes ist es, das Projekt QUEN als gemeinsame Leistung aus der Gesellschaft – mit internationaler Beteiligung für die Gesellschaft zu entwickeln und zu betreiben.

Mit der Webseite QUEN entsteht unter Beteiligung von Expertinnen und Experten aus der Veterinärmedizin, Biologie, Genetik und den Rechtswissenschaften eine sachverständige Zusammenfassung dessen, was als aktueller, gesicherter wissenschaftlicher Kenntnisstand im Bereich der Zucht mit Defekten gilt. Aktuelle Erkenntnisse und Gerichtsurteile werden ständig aktualisiert und ergänzt. Im Sinne einer zukunftsorientierten Ausrichtung gilt es, moderne, wachsende, ergänzungsfähig dynamische Kommunikationssysteme als Grundlage des Tierschutzes zu benutzen, die dem Erkenntnisgewinn im Tierschutz angemessen Rechnung tragen. Die mediale Präsenz der Webseite QUEN dient gleichwohl der Wissensdiffusion, will aber auch zur Sensibilisierung  und Reflektion zum Thema Qualzucht in der Privattierhaltung, aber auch in der Defektzucht bei landwirtschaftlichen Nutztieren anregen.