Merkblatt Hund Rute

Tierart: Hund
Defekt an Körperteil: Rute
QUEN-Merkblatt Nr. 5
Bearbeitungsstand: 02.01.2024
Tierart: Hund
Defekt an Körperteil: Rute
QUEN-Merkblatt Nr. 5
Bearbeitungsstand vom 02.01.2024

1. Beschreibung des Merkmals

Rute: Brachy- und Anurien sowie Verkrüppelung der Schwanzwirbelsäule, fest eingerollte Rute => Keilwirbel, Blockwirbel, Schmetterlingswirbel, korkenzieherförmig verdrehte und verkürzte Rute („screw- tailed“). Die Rute selbst besteht aus Keilwirbeln.

2.1 Bild 1

Verkürzte Rute
Foto: QUEN-Archiv

2.1 Bild 2


„screw-tail“ vor der Operation
Foto: Phil Zeitzmann
 

3. Betroffene Hunderassen

z.B. Französische- und Englische Bulldogge, Boston Terrier, Mops u.a.

4. Vorkommen bei anderen Tierarten

Veränderungen am Schwanz in Form von Verkürzungen, Verkrüppelungen, Distorsionen, Fehlbildungen oder Beweglichkeitseinschränkungen der Wirbel kommen bei vielen Tierarten, wie z.B. Katzen, Schweinen, Rindern, Schafen und Hühnern vor.

Häufigkeit, Erbgang und klinische Bedeutung sind dabei je nach Spezies und Rasse unterschiedlich.

5. Mit dem Merkmal möglicherweise verbundene Probleme/Syndrome

Bei der Präsentation eines Tieres mit einer angeborenen Fehlbildung der Rute muss das mögliche Vorhandensein anderer Anomalien in Betracht gezogen werden. Die Zucht auf eine wie oben beschriebene Schwanzform, führt auch zu einem erhöhten Risiko von Keilwirbeln in anderen Bereichen der Wirbelsäule.

Keilwirbelbildungen kommen vor allem bei chondrodystrophen Rassen, wie z.B. Französischer- und Englischer Bulldogge, Boston Terrier und Mops vor. Untersuchungen belegen, dass die Anzahl der Steißbeinwirbel negativ mit der Anzahl und dem Grad der Hemivertebrae korreliert.

Eine hochsignifikante Assoziation besteht zwischen hochgradigen Rutendeformationen und vorgeschalteten vertebralen Malformationen.

Die Rutendistorsion kann durch Aneinanderreibung der Hautoberflächen zu Hautentzündungen (Tailfold Intertrigo) und Pyodermien führen.

6. Symptomatik und Krankheitswert der oben genannten Defekte: Bedeutung/Auswirkungen des Defektes auf das physische/ psychische Wohlbefinden (Belastung) des Einzeltieres u. Einordnung in Belastungskategorie

Die einzelnen zuchtbedingten Defekte werden je nach Ausprägungsgrad unterschiedlichen Belastungskategorien (BK) zugeordnet. Die Gesamt-Belastungskategorie richtet sich dabei nach dem jeweils schwersten am Einzeltier festgestellten Defekt. Das BK-System als Weiterentwicklung nach dem Vorbild der Schweiz ist noch im Aufbau, daher sind die hier vorgenommenen BK-Werte als vorläufig anzusehen.

Physisch: Symptome sind abhängig von Lokalisation und Anzahl der betroffenen Wirbel. Klinische Probleme können durch Krümmung der Wirbelsäule und Druck von Wirbeln gegen das Rückenmark entstehen – bis hin zur Rückenmarksdurchtrennung in Form von: Bewegungskoordinationsstörungen, Lähmung, verminderte Reflexe und Stehvermögen sowie Muskelatrophie der Hintergliedmaßen, Schmerz der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte mit Ausstrahlung in die Extremitäten bzw. Körperregionen, Kyphose, Skoliose, Lordose, Inkontinenz von Kot und Urin.

Psychisch: Durch eine fehlende, funktionsuntüchtige oder stark verkürzte Rute werden Hunde in ihrem arteigenen Ausdrucksverhalten und ihrer Kommunikation stark eingeschränkt. Die visuelle Kommunikation und die für Tier und Mensch gut zu „lesenden“, gleichzeitig komplexen, durch Haltung und Bewegung der Rute transportierten Signale, gehören zu den wichtigsten lautlosen Bestandteilen der Hundesprache. Eine aktuelle aus dem Bereich der Tierethik stammende Definition von artgerecht lautet: „Gerechtigkeit für das Individuum entsprechend der in ihm genetisch verankerten Lebensweise seiner Art. Der Sollzustand eines Tieres beurteilt sich an Tieren der gleichen Art.“

Hunde kommunizieren u.a. visuell mit anderen Individuen, indem sie die Position verschiedener Körperteile verändern. Die Steuerung durch willkürliche Muskeln ermöglicht es Hunden, eine breite Palette Körperhaltungen und Positionen von Körperteilen zu zeigen, die verschiedene Informationen über den inneren Zustand und die Absichten des Signalgebers vermitteln.

Der Mensch hat durch künstliche Selektion über viele Jahre hinweg Veränderungen in der Anatomie und Morphologie von Hunden bewirkt, die die Fähigkeit mehrerer Rassen, soziale Signale zu geben, reduziert haben. So haben beispielsweise brachycephale Hunde die Flexibilität verloren, verschiedene Gesichtsausdrücke zu zeigen und Hunde mit permanent aufgerichteten Ohren oder sehr kurzen Schwänzen können einen Teil ihres
Verhaltensrepertoires nicht zeigen, das normalerweise durch diese anatomischen Strukturen zum Ausdruck gebracht wird.

Belastungskategorie: Noch nicht eingeordnet.

7. Vererbung, Genetik, ggf. bekannte Genteste, ggf. Generic Illness Severity Index

Die Disposition zur Bildung von Keilwirbeln ist erblich.

Beim Deutsch Kurzhaar und Schäferhund besteht ein autosomal rezessiver Erbgang. Der Erbgang bei Französischen Bulldoggen und Möpsen ist noch ungeklärt – vermutlich ist mehr als ein Genort beteiligt.

Am Institut für Tierzucht und Vererbungsforschung der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover wurde eine Dissertation zur genetischen Aufklärung von Keilwirbeln bei der Französischen Bulldogge begonnen, die allerdings nicht in allen geplanten Bereichen abgeschlossen werden konnte.

Genteste: nicht bekannt

8. Diagnose – weitergehende Untersuchungen

Es handelt sich um einen in der Regel deutlich sichtbaren Defekt. Empfohlen wird eine bildgebende Untersuchung der gesamten Wirbelsäule, bei brachycephalen Tieren auch eine Untersuchung des Kopfes.

Ein Auswertungsbogen für die Untersuchung der Brust- und Lendenwirbelsäule von Französischen Bulldoggen wurde bereits 2011 entworfen und kann ggf. auch für die Beurteilung bei Englischen Bulldoggen, Boston Terriern, Möpsen u.a. herangezogen werden.

9. Aus tierschutzfachlicher Sicht notwendige oder mögliche Anordnungen

Entscheidungen über Zucht- oder Ausstellungsverbot sollten im Zusammenhang  mit der Belastungskategorie (BK) getroffen werden. Ausschlaggebend für ein Zuchtverbot kann je nach Ausprägung und Befund sowohl der schwerste, d.h. das Tier am meisten beeinträchtigende Befund, und dessen Einordnung in eine der Belastungskategorien (BK) sein, oder auch die Zusammenhangsbeurteilung, wenn viele einzelne zuchtbedingte Defekte vorliegen. Berücksichtigt werden sollte ggf. auch der  individuelle Inzuchtkoeffizient eines Tieres.  

a) notwendig erscheinende Anordnungen

Zuchtverbot (unmittelbar auf § 11b gestützte Anordnung nach § 16a Abs. 1 S. 1)

Ausstellungsverbot: Bei dem Tier besteht aufgrund der sichtbaren Veränderung der Verdacht einer Qualzucht gem. §11b TierSchG, deshalb wird die Vorstellung des Tieres zur Bewertung und Ausstellung untersagt (ggf. muss zusätzlich eine Mitverantwortung der Zuchtrichter und /oder Ausstellungsveranstalter für ein rechtswidriges Verhalten = Zucht entgegen §11b TierSchG berücksichtigt werden).

b) mögliche Anordnungen

Anforderung eines Genomprofils

Dauerhafte Unfruchtbarmachung, ggf. Überweisung zu weiterer fachtierärztlicher klinischer Untersuchung

Bitte beachten:

Maßnahmen der zuständigen Behörde müssen erkennbar geeignet sein, auch in die Zukunft wirkend Schaden von dem betroffenen Tier und/oder  dessen Nachzucht abzuwenden. Es handelt sich im Hinblick auf Art und Bearbeitungstiefe von Anordnungen und Zuchtverboten immer um Einzelfallentscheidungen im Ermessen der zuständigen Behörde unter Berücksichtigung der vor Ort vorgefundenen Umstände.

10. Allgemeine tierschutzrechtliche Bewertung

Aus tierärztlicher Sicht sind Hunde mit den oben beschriebenen Defekten/ Syndromen in Deutschland gemäß §11b TierSchG als Qualzucht einzuordnen.

Dabei ist zu beachten, dass das Zuchtverbot nicht nur dann greift, wenn mit Tieren gezüchtet wird, die selbst qualzuchtrelevante Merkmale aufweisen (Merkmalsträger), sondern auch dann, wenn bekannt ist oder bekannt sein muss, dass ein zur Zucht verwendetes Tier Merkmale vererben kann, die bei den Nachkommen zu einer der nachteiligen Veränderungen führen können (Anlageträger; insbesondere Tiere, die bereits geschädigte Nachkommen hervorgebracht haben; vgl. Binder § 5 ÖTSchG zu Z 1).

 – Ein wichtiges Indiz für einen erblichen Defekt ist, dass eine Erkrankung oder Verhaltensabweichung bei verwandten Tieren häufiger auftritt als in der Gesamtpopulation. Gegen einen Schaden spricht nicht, dass sich die Rasse oder Population über längere Zeit als lebensfähig erwiesen hat (vgl. Lorz/Metzger § 11b Rn. 12).

 – Das Verbot gilt unabhängig von der subjektiven Tatseite, also unabhängig davon, ob der Züchter selbst die Möglichkeit der schädigenden Folgen erkannt hat oder hätte erkennen müssen (Lorz/Metzger § 11b Rn. 4). Wegen dieses objektiven Sorgfaltsmaßstabes kann er sich nicht auf fehlende subjektive Kenntnisse oder Erfahrungen berufen, wenn man die jeweiligen Kenntnisse und Erfahrungen von einem sorgfältigen Züchter der jeweiligen Tierart erwarten kann. 

– Vorhersehbar sind erbbedingte Veränderungen bei den Nachkommen auch dann, wenn ungewiss ist, ob sie erst nach einem Generationensprung in späteren Generationen auftreten (vgl. Goetschel in Kluge § 11b Rn. 14)

Begründung:

Gem. §11b TierSchG ist es verboten, Wirbeltiere zu züchten, soweit züchterische Erkenntnisse erwarten lassen, dass als Folge der Zucht bei der Nachzucht oder den Nachkommen u.a.

  • erblich bedingt Körperteile oder Organe für den artgemäßen Gebrauch fehlen oder untauglich oder umgestaltet sind und hierdurch Schmerzen, Leiden oder Schäden auftreten (§ 11b Abs. 1 Nr. 1 TierSchG) oder
  • mit Leiden verbundene erblich bedingte Verhaltensstörungen auftreten (§ 11b Abs. 1 Nr. 2 a) TierSchG) oder
  •  die Haltung nur unter Schmerzen oder vermeidbaren Leiden möglich ist oder zu Schäden führt (§ 11b Abs. 1 Nr. 2 c) TierSchG).

Die Zucht von Tieren mit einem oder mehreren der oben beschriebenen Defekte erfüllt den Tatbestand der Qualzucht durch:

Ein Tier mit einer genetisch bedingt verkürzten, verdrehten („screw-tail“) und funktionslosen oder gar völlig fehlender Rute ist bereits gemäß dem sogen. Qualzuchtgutachten als Qualzucht klassifiziert – beim Vorkommen von weiteren Veränderungen in der Wirbelsäule (Keilwirbel) wurde von der Zuchtverwendung abgeraten. Das o.g. Gutachten bezog sich auf eine Gesetzgebung noch vor der Einfügung des Artikel 20a (Tierschutz als Staatsziel) ins Grundgesetz.

Gem. §11b TierSchG in der aktuellen Fassung ist verboten, Wirbeltiere zu züchten […], soweit im Falle der Züchtung züchterische Erkenntnisse […] erwarten lassen, dass als Folge der Zucht […]bei der Nachzucht, den […] Tieren selbst oder deren Nachkommen erblich bedingt Körperteile oder Organe für den artgemäßen Gebrauch fehlen oder untauglich oder umgestaltet sind und hierdurch Schmerzen, Leiden oder Schäden auftreten oder […] bei den Nachkommen mit Leiden verbundene erblich bedingte Verhaltensstörungen auftreten […]

Eine hochsignifikante Assoziation besteht zwischen hochgradigen Rutendeformationen und vorgeschalteten vertebralen Malformationen, die beim Hund selbst und seinen Nachkommen zu schweren Leiden, Schmerzen und Schäden führen können. Auswertungen des Institute of Canine Biology ergaben für die hier beschriebenen Rassen nicht nur einen Verhältnis zur Körpergröße zu erwartende Lebenszeit war außerdem verkürzt, wobei nur 8% der untersuchten Kohorte an Altersschwäche verstarb.

Bei der Rute des Hundes handelt es sich um ein Körperteil, der für das artgerechte Verhalten des Tieres von nicht unerheblicher Bedeutung ist und bestimmte Funktionen zu erfüllen hat. Die erhebliche Einschränkung des arteigenen Ausdrucks- und Kommunikationsverhaltens ist als Verhaltensstörung und Leiden zu werten.

Wichtig: Zusätzlich ist zu beachten, dass sich die Beschreibung und Beurteilung in diesem Merkblatt auf ein sichtbares Symptom einer Qualzucht bezieht. Bei einem großen Teil dieser Tiere sind zusätzliche sichtbare und/ oder verdeckte Defekte und Dispositionen vorhanden oder bekannt, die durch zusätzliche Untersuchungen und/oder Genteste detektiert werden können.

Fazit: Das Tier selbst ist als Defekt/ Qualzucht zu klassifizieren. Züchterische Erkenntnisse lassen nicht nur erwarten, dass bei den Nachkommen mit Schmerzen, Leiden und Schäden verursachenden Einschränkungen gerechnet werden muss, sondern es muss als erwiesen angesehen werden, dass ein mehr oder weniger großer Anteil der Nachkommen mit nicht unerheblichen Einschränkungen des Wohlbefindens wird leben müssen.

Ausführliche rechtliche Bewertungen und/oder Gutachten können, soweit schon vorhanden, auf Anfrage Veterinärämtern zum dienstlichen Gebrauch zur Verfügung gestellt werden.

11. Relevante Rechtsprechung

VG Stade,  Beschluss v. 07.07. 2022, 10 B 481/22    (Beschluss kann auf Anfrage Veterinärämtern zum dienstlichen Gebrauch zur Verfügung gestellt werden).

OVG Lüneburg, Beschluss v. 25.10.2022, 11 ME 221722

Zu fehlenden Körperorganen außerdem:

VG Berlin, Urteil vom 23. 9. 2015-24K 202.14-,juris Rn.26

VG Hamburg, Beschluss v. 4. 4. 2018, 11 E 1067/18, juris Rn. 47

VGH Kassel, Beschluss v. 26.6.2003, 11 TG 1262/03, RdL 2003, 277, 278

12. Anordnungsbeispiel vorhanden?

Ja. Anordnungsbeispiel kann in anonymisierter Form auf Anfrage Veterinärämtern zum dienstlichen Gebrauch zur Verfügung gestellt werden.

13. Literaturverzeichnis/ Referenzen/ Links

An dieser Stelle wird nur eine Auswahl an Quellen zu den oben beschriebenen Defekten  und ggf. allgemeine Literatur zu zuchtbedingten Defekten bei Hunden angegeben. Umfangreichere Literaturlisten zum wissenschaftlichen Hintergrund werden auf Anfrage von Veterinärämtern ausschließlich an diese versendet.

Hinweis: Die Beschreibung von mit dem Merkmal verbundenen Gesundheitsproblemen, für die bisher keine ausreichenden wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen, erfolgen vor dem Hintergrund entsprechender Erfahrungen der Experten und Expertinnen aus der tierärztlichen Praxis, und /oder universitären Einrichtungen, sowie öffentlich frei einsehbaren Datenbanken oder Veröffentlichungen von Tier-Versicherungen und entstammen daher unterschiedlichen Evidenzklassen.

Da Zucht und Ausstellungswesen heutzutage international sind, beziehen sich die Angaben in der Regel nicht nur auf Prävalenzen von Defekten oder Merkmalen in einzelnen Verbänden, Vereinen oder Ländern.

Quellen:

Gough et al. (2018): Breed Predispositions to Disease in Dogs and Cats.

Breed Predispositions to Disease in Dogs and Cats, 3rd Edition | Wiley

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